maandag, mei 30, 2005

EU GRONDWET ??????

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November2004

Nur ein Vertrag

Da es kein EU-Volk gibt, kann es auch keine EU-Verfassung geben.

Alain de BENOIST

Die Unterzeichnung der europäischen Verfassung am vergangenen Freitag in Rom wurdeallseits als bedeutender Vorwärtsschritt in der Geschichte der Europäischen Unionpräsentiert. Einen Schritt sind die 25 Mitgliedsstaaten damit gewiß gegangen - ob er aber sobedeutsam ist, wie er dargestellt wird, ist fraglich.Schon die Bezeichnung "Verfassung" führt in die Irre. Streng genommen erfordert dieEntstehung einer Verfassung als Grundvoraussetzung die Existenz einer konstitutiven(verfassunggebenden) Gewalt. Diese grundsätzliche Überlegung ist jedoch zu keiner Zeitberücksichtigt worden. Nicht etwa das "europäische Volk" hat die vorliegende Verfassungausgerufen, sondern ihr Wortlaut ist zwischen Regierungen und Staatschefs ausgehandeltworden.Statt um eine Verfassung handelt es sich demnach um eine Art Vertrag mitVerfassungsrang, der gemäß einem quasi-diplomatischen Verfahren angenommen wurde -was etwas völlig anderes ist. Eine Verfassung ist ein Text besonderer Art, der vonvornherein für alle und für jeden Gültigkeit beansprucht, ein Vertrag eine Abmachungzwischen Staaten, die den Willen der einzelnen Unterzeichner in den Vordergrund stellt, sichan sie zu halten.Der Begriff der konstitutiven Gewalt ist ein eminent demokratischer. Er ist eng verbunden mitdem Gedanken der Volkssouveränität, das heißt mit der Vorstellung, daß in letzter Instanzallein der von den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft zum Ausdruck gebrachte Willedie Ausübung von Macht oder Zwang rechtfertigen kann.Zwischen der Verfassung und der verfassunggebenden Gewalt besteht eine offensichtlicheKausalbeziehung. Jedoch sind diese beiden Begriffe nicht gleichbedeutend und können sichsogar widersprechen. Per Definition ist die Verfassung konservativ: Sie ist für die Dauergemacht, die konstitutive Gewalt hingegen muß ständig bereit sein, sie in Frage zu stellen,zu ergänzen oder zu ändern. Seit dem Beginn der Neuzeit existieren deswegen zweigegensätzliche Vorstellungen von dem Verhältnis zwischen Verfassung undverfassunggebender Gewalt.Die amerikanische mißt der konstitutiven Gewalt zum Zeitpunkt der Verfassungsgebunggroße Bedeutung zu (We, the people of the United States), um ihr anschließend jeglicheEingriffsmöglichkeit zu entziehen. In den USA hat das Volk sein Aufsichtsrecht über dieVerfassung an den Obersten Gerichtshof verloren, der die alleinige Macht hat, über dieVerfassungskonformität von Gesetzen und die Notwendigkeit zu entscheiden,Nachbesserungen (amendments) vorzunehmen.Völlig anders gestaltet sich die französische Vorstellung. Sie beschränkt die Rolle derkonstitutiven Gewalt nicht auf den Zeitpunkt der Verfassungsgebung, sonderninstitutionalisiert sie als Gewalt, die über der Verfassung steht und diese jederzeit verändernoder außer Kraft setzen kann. Weil das Gesetz aus dem Willen der Allgemeinheithervorgehen soll, der sich an der Wahlurne ausdrückt, übt hauptsächlich die Legislative (dieparlamentarische Volksvertretung) die Funktion der konstitutiven Gewalt aus. DerenBefugnisse wurden freilich in der V. Republik mit der 1974 beschlossenenVerfassungsänderung stark eingeschränkt. Seither wird die Verfassungsmäßigkeit derwichtigsten Gesetze vor ihrem Inkrafttreten überprüft, was eine Verlagerung derkonstitutiven Gewalt auf den Verfassungsrat bedeutet.Parallel zu dieser Entwicklung ist zum einen das Recht zunehmend internationalisiert, zumanderen sind demokratische Verfahren der Ideologie der Menschenrechte untergeordnetworden. Die europäische Verfassung paßt genau in diesen Rahmen, denn sie korrespondiertmit der Entstehung eines neuen Nomos der Erde, dessen Schwerpunkt nicht mehr dasVerfassungsrecht der Einzelstaaten, sondern das humanitäre Völkerrecht bildet.An dieser Stelle kann der Wortlaut der europäischen Verfassung nicht im Detail diskutiertwerden. Am meisten bedürfen wohl jene Artikel der Diskussion, in denen den Wirtschafteneine liberale Ausrichtung vorgeschrieben wird (eine um so erstaunlichere Festlegung, als esnicht Aufgabe einer Verfassung ist, über Wirtschaftsformen zu bestimmen), vor allem aberArtikel 40, der verfügt, daß "bei der Umsetzung der engeren Zusammenarbeit im Bereich dergegenseitigen Verteidigung die beteiligten Staaten eng mit der Nordatlantikvertrags-Organisation zusammenarbeiten" und jede gemeinsame Sicherheits- undVerteidigungspolitik mit der Politik der Nato "vereinbar" sein muß. Diese Bestimmung, die dieAutonomie der europäischen Außenpolitik von vornherein beschneidet, gefährdet dieUnabhängigkeit Europas.Es gibt aber genug andere Themen, die im Verfassungstext wohlweislich vermieden werden:die Frage der Sprache Europas, die Frage seiner Hauptstadt, die Frage seinerAußengrenzen, die Frage der Anwendungsmodalitäten des Gemeinschaftsrechts, die Frageder Finanzierung des EU-Haushalts etc.All diese dringlichen Probleme werden peu à peu zutage treten. Somit wird sich sehr schnellherausstellen, inwieweit diese Verfassung, die darauf zugeschnitten ist, für alle akzeptabelzu sein, diese allgemeine Zustimmung nur zu dem Preis erreichen konnte, das Wesentlichenicht zu thematisieren.